Ich muss kurz auftauchen

Grund: 20. Geburtstag meiner Lebensabschnittsbegleiterin

Liebes Ella Lingens Gymnasium!

Vor einigen Jahren hatte ich folgenden Traum, den ich einer Kollegin erzählte:
Ich kam frühmorgens in die Schule und war verwundert, dass ich den Schulwart nicht antraf. Meine Sorge vergrößerte sich, weil bis 8 Uhr keine einzige Mitarbeiterin und kein einziger Mitarbeiter zu erreichen waren und auch nicht eintrafen. 950 SchülerInnen standen nun vor dem Schultor und warteten auf Einlass. Das Ella Lingens Gymnasium und ich waren ganz allein auf uns gestellt. "Wie können wir diesen Schultag bewältigen?", überlegte ich in meinem Traum. Der Wecker beendete diese Überlegungen. (Ja! Ich wurde vom ersten bis zum letzten Arbeitstag vom selben Wecker begleitet.)
Am Ende meiner Schilderung fragte ich meine Kollegin: „Wie hättest du reagiert?“ Sie antwortete kurz und bündig: „Wieso hast du nicht die Schule verlassen?“
Ich konnte meine Begleiterin nicht im Stich lassen. Wir waren zusammengewachsen. Stets hatte ich einen USB-Stick bei mir, auf dem sich die zentralen Daten der Schule befanden, sodass ich die Schule von jedem Ort der Welt hätte verwalten können. Im März 2020 wurde das Realität.

Immer wieder besuchte ich die Schule zu Tageszeiten, in denen sie menschenleer war. Es waren meist administrative, kontrollierende, organisatorische oder analysierende Tätigkeiten, die ich dann durchführte.
Zu diesen Zeiten habe ich jeden Winkel der Schule ganz alleine und in vollkommener Lautlosigkeit kennengelernt. In dieser akustischen aber nicht geistigen Stille konnte ich sehr gut meine Gedanken zu einer Problemstellung z.B. Prüfungsritual „Zentralmatura“ zusammenfassen und einen organisatorischen Rahmen für das betrachtete Problem entwickeln.

Im konkreten Beispiel war es so, dass ich unter anderem die Prüfungsräume besuchte und mir überlegte:
- Wie würde ich mich als Besucher (Vater, Freund, …) in diesem Raum fühlen?
- Wie ist der Sonnenstand zu unterschiedlichen Tageszeiten?
- Welche Erfahrungen machen KollegInnen, wenn sie in diesen Räumen unterrichten?
- Was haben mir SchülerInnen über die Lärmsituation in diesen Räumen erzählt?
- …

Durch meinen Kopf flossen bei diesen Besuchen stets die Erfahrungen und Standpunkte der Direktorin, der SchülerInnen, der LehrerInnen, der Väter und Mütter, der Schulwarte, der treuen und zuverlässigen BegleiterInnen in der Administration, der Sekretärinnen, der österreichischen AdministratorInnen und all jener Personen und Gesetzestexte, die bereits Beiträge zu diesem Thema geliefert hatten.
In diesen Stunden erlebte ich die Komplexität meiner Begleiterin mit hoher Intensität und die Schule war nicht mehr nur Arbeitsplatz, Gebäude und Organisation sondern das Ella Lingens Gymnasium, wie ich es im Kopf behalten werde.

Der starke Puls der Festkultur zeigt mir, dass noch sehr viel Energie in meiner ehemaligen Begleiterin steckt.

Weiter so!

Meine neue Begleiterin ruft!

H.-P. Zerlauth